Philip Behr / SinnerSchrader
Einen Einblick in die Inszenierung von Marken in der Zukunft gibt Philip Behr. Wie kann
man bei der digitale Transformation, der Nutzeraktivierung, der Explosion der Touchpoints
noch ein konsistentes Markenbild schaffen?
Der Prozess der digitalen Transformation beschäftigt uns alle mehr oder minder seit
vielen Jahren. Uns bei SinnerSchrader natürlich auch – aktuell ist viel davon
gebündelt in Matthias Schraders Werk „Transformationale Produkte“ zu finden. Aber
bei der ganzen Entwicklung digitaler Produkte brannten uns im Product Design zwei
Fragen stark unter den Nägeln:
Wie verändert sich Corporate Design im Kontext der digitalen Transformation? Und
in welchen Aspekten muss sich deshalb das Erscheinungsbild eines Unternehmens
in den kommenden Jahren weiterentwickeln?
Hierzu haben wir uns zunächst einmal erfolgreiche Marken im Prozess der digitalen
Transformation angesehen. Ein gutes Beispiel finden wir bei IBM. Der ehemalige
Hardwareproduzent hat es geschafft sich vom rein physischen zu einem virtuellen
Produkt zu bewegen. So entwickelte sich das Unternehmen nicht nur zum weltweit
zweitgrößten Softwarehersteller, sondern wurde durch IBM Watson zur Big-Data-
Intelligenz. Eine ähnliche Entwicklung sehen wir bei Mastercard – jedoch in anderer
Ausprägung. Durch die Reduktion der Markenelemente ist man hier nicht nur flexibler
in der Gestaltung geworden, sondern vereint konsequent Marke und Produkt. Die
Vereinfachung und den Einsatz des Logos sehen wir als deutliches Sinnbild hierfür.
Uber zeigt hingegen eine eher disruptive Herangehensweise, wenn es um die
Darstellung der eigenen Marke geht. Natürlich stellen sie sich selbst auch stets
konsistent dar, zeigen aber bereits in den ersten Seiten des Brand Manuals, wie sich
die Marke in fremde Touchpoints integrieren lässt. Die UX von Buttons steht über der
Definition von Typografie und Schriftgrößen. Am Weitesten treibt es derzeit jedoch
sicherlich Airbnb. Der komplette Designprozess wird mittels intelligenter Systeme
digitalisiert. Durch den Einsatz der React-sketchapp kann Code direkt in Sketch-
Dateien gerendert werden. So ist es möglich, ausgehend vom Development, einen
deutlich optimaleren Designprozess zu schaffen. Alex Schleifer, Head of Design bei
Airbnb sagt dazu:
„We’re investing in code as a design tool, that not only includes
layout and design, but also logic and data. This helps bridge the gap
between engineers and designers, and the steps between vision and
reality.“
Wie verändert sich das Corporate Design?
Wir kommen aus einer Welt, in der wir wirklich viel Platz hatten. Früher konnte man
sich auf prominente Anzeigen fokussieren, bei denen jeglicher Raum für die
Darstellung der Marke genutzt werden konnte. Heute hat man minimale Flächen von
16x16 Pixeln, auf denen sich die Marke innerhalb fremder Ökosysteme präsentieren
kann.
Als Kern wird ein fixer Charakter definiert, dieser sichert die Markenkonsistenz. Von
da aus werden einige Touchpoints sicher und separat bespielt. Jedoch erleben wir
zur Zeit eine wahre Touchpoint-Explosion. Es ergeben sich immer neue
Kontaktpunkte, wir befinden uns in einem wuchernden Ökosystem. Außerdem
kommen andere Ökosysteme mit eigenen Touchpoints hinzu, welche nicht erreicht
werden. Und nicht zuletzt kommt dann noch der Nutzer hinzu. Durch die einseitige
Bespielung kann nicht auf die Bedürfnisse der Nutzer eingegangen werden, es gibt
keinen wirklichen Feedback-Kanal. Zusätzlich steigt die Nutzererwartung: Es geht
nicht mehr nur um Kommunikation, sondern um Interaktion.
Es wird immer unmöglicher, alle unterschiedlichen Ausprägungen zu diktieren.
Gleichzeitig wird es immer wichtiger ein konsistentes Erscheinungsbild zu
kommunizieren und damit als Marke erkennbar zu bleiben. Wir befinden uns in
einem Spannungsfeld: Der Wunsch nach mehr Kontrolle steht dem manuellen
Aufwand zur Pflege gegenüber. Das Corporate Design ist mehr als je zuvor
businessrelevant. Wir sind also auf den Nutzer angewiesen. Aber es gibt kein
Feedback vom Nutzer, ob die aufgestellten Prinzipien überhaupt funktionieren – und
wir können diese bei Bedarf auch nicht schnell ändern.
Im Kern ergeben sich also drei Herausforderungen:
1. Schnell & Agil
Wir wollen agieren anstatt zu reagieren.
2. Zentral updatefähig
Wir wollen überall gleichermaßen als Marke erkennbar bleiben.
3. Bedingungslos nutzerzentriert
Das Feedback des Nutzers muss Teil des Designs werden.
Schnell & Agil
Um schnell und agil zu sein, haben wir uns den bisherigen Designprozess einmal
näher angesehen. Dahinter verbirgt sich Design, Development, Qualitätssicherung
und am Ende natürlich der Nutzer. Wir geben das Produkt durch die verschiedenen
Stationen und prüfen es in jeder einmal mit dem Corporate Design. Wenn es
schlussendlich beim Nutzer angelangt ist, müssen wir mit Feedback (z.B. durch A/BTests)
den kompletten Prozess neu starten. Bei näherem Hinsehen stellt sich
natürlich die Frage, wozu wir die Phase der Qualitätssicherung brauchen? Doch
vorwiegend, damit geprüft und sichergestellt wird, dass die Umsetzung auch dem
Design entspricht. Aber wieso muss das extra geprüft werden? Weil Design und
Development verschiedene Sprachen sprechen. Der Designer entwickelt und
übergibt schließlich ein Layout indem er optisch misst, zum Beispiel den Abstand
zwischen Grundlinie und Oberlänge. Der Developer denkt und handelt allerdings im
HTML Box-Modell. So besteht ein Textfeld nicht nur aus den sichtbaren Buchstaben,
sondern auch die nicht-sichtbare Lineheight ist essentieller Bestandteil des
Elements. Wir benötigen also eine gemeinsame Sprache in der beide Disziplinen
sich verständigen können.
Wenn Design und Development also deckungsgleich arbeiten, kann der QS-Schritt
aufgrund der absolut geringen Fehlerquote entfallen. Der Designprozess verkürzt
sich also enorm und damit auch der Weg zwischen Nutzer und Produkt.
Schnell & Agil heißt:
Fehler im Vorfeld vermeiden anstatt sie nachträglich zu beheben
Kürzere Reaktionszeit bei Änderungen
Schnelles und effizientes Alignment von Design und Development
Zentral updatefähig
Als Grundlage für die zentrale Updatefähigkeit nutzen wir unseren optimierten
Prozess und einen Styleguide mit allen Basis-Regeln und Assets. Zwei verschiedene
Plattformen einer Marke dienen als Beispiel:
Übergreifend soll ein zentrales Element (z.B. der Primary Button) angepasst werden,
er wird gelb statt vorher blau. Dazu wird bekanntermaßen erst der Button fern des
eigentlichen Einsatzortes im Styleguide definiert. Anschließend soll er von dort aus
über den Designprozess in die jeweiligen Plattformen übertragen werden. Jedoch
passieren diese Anpassungen alle an unterschiedlichen Orten, man arbeitet also mit
einer Vielzahl an Kopien des eigentlichen Buttons. Besser wäre also eine
gemeinsame Codebasis für alle Touchpoints. Zugleich sollten die markenprägenden
und Kernelemente nicht separat und statisch dokumentiert werden, sondern Teil
dieser Basis werden. Bestenfalls haben wir also eine zentrale Bibliothek, welche als
gemeinsame Grundlage für alle Touchpoints dient. Mit dieser Pattern Library können
wir den bereits optimierten Prozess durch ein spezifisches UX System zu ergänzen.
Es beinhaltet neben einzelnen Basis-Komponenten auch komplette UX-Patterns und
ist stets erweiter- und anpassbar.
Zentral updatefähig heißt:
Übergreifend verbesserte Experience
Ganzheitliches Arbeiten anstatt partielles Ausbessern
Sicher konsistentes Erscheinungsbild über alle Touchpoints
Bedingungslos nutzerzentriert
Um wirklich nutzerzentriert arbeiten zu können, müssen wir uns wegbewegen vom
aktuell linearen Prozess hin zu einem nicht enden wollenden Kreislauf. So gibt der
Nutzer die Anforderungen an das Produkt an und dieses überarbeitet sich dadurch
fortwährend.
Ein gutes Beispiel für kontinuierliches Feedback bietet Netflix. Der
Streamingdienstleister schafft es bis zu 70 verschiedene Live-Stände der eigenen
Seite zu schalten. Rigoros wird jeder Content, der ausgespielt wird getestet. Dazu
wurde ein Algorithmus geschrieben, der selbstständig Bilder bearbeitet, Typografie
setzt und die jeweiligen Formate direkt live stellt. Diese unterschiedlichen Versionen
werden in A/B-Tests gegeben und die, die am besten konvertiert wird weiter
eingesetzt. Auch unterschiedliche Länder lassen sich so angepasst an die jeweilige
Zielgruppe bespielen. Alles komplett automatisiert.
Mit so einem System könnten wir in unserem Fall natürlich auch Elemente, die nicht
gut funktionieren oder einfach nicht mehr genutzt werden aus der Library entfernen.
Der Weg zum personalisierten Design ersetzt also die die Learnings aus
Nutzerfeedback einer ganzen Zielgruppe durch Learnings aus individuellem
Nutzerverhalten. Wir lernen den Nutzer durch einen Algorythmus kennen, welcher
aus folgenden Bestandteilen besteht:
Content
Welche Inhalte konsumiert der Nutzer?
Dauer
Wie lange werden Inhalte betrachtet?
Häufigkeit
Wie viel Kontakt hat der Nutzer mit den Touchpoints der Marke?
Verhältnis
In welcher Relation werden die Inhalte gesehen?
Kontext
Woher kommt der Nutzer, wohin soll er gehen?
Zwei verschiedenen Nutzern, welche denselben Touchpoint besuchen, kann also
jeweils ein anderes Interface angezeigt werden. Navigiert sich ein Nutzer eher
schnell und fokussiert durch eine Website und liest diese „wie eine Tageszeitung “,
bekommt dieser zur nutzergerechten UX vielleicht prägnantere Headlines und
größere Bilder angezeigt als ein Nutzer, welcher sich Zeit nimmt und alle Inhalte in
Ruhe konsumiert. Durch diese Personalisierung und die Beziehung zum Nutzer
lösen wir starre Markenarchitekturen ab. Unterschiedliche Nutzer können individuelle
Perspektiven auf die Marke haben und sie durch personalisierte Filter wahrnehmen,
ohne dass die Markenkonsistenz verloren geht. Die Marke wird user-spezifisch
eingefärbt.
Bedingungslos nutzerzentriert heißt:
Wir arbeiten mit Fakten, nicht mit Annahmen
Nutzer steht mit seinem Feedback im Mittelpunkt
Stärkung der persönlichen Beziehung zur Marke
Wir erschaffen aus unseren Herausforderungen also einen Dreiklang aus Design,
Development und Data. Und wir nennen ihn…
Autonomous Design
Mit dieser Arbeitsweise bekommen wir also die Kontrolle zurück, welche wir verloren
geglaubt haben. Und außerdem bauen wir zu jedem Nutzer eine individuelle
Verbindung auf. Mit Code als Sprache schaffen wir die Basis für zukünftige
Entwicklungen. Und diese lassen dank der aktuellen Trends nicht mehr lange auf
sich warten.
Mit aktuellen Entwicklungen wie dem Apple Homepod oder Amazon Alexa stehen wir
vor ganz neuen Herausforderungen. Aus einer Welt kommend, in der wir noch visuell
gestalten konnten, bewegen wir uns in eine Zukunft in der wir auf kein sichtbares
Interface mehr angewiesen sind. Es wird vielmehr ein zentrales Device geben,
anstatt wie jetzt diverse. Und irgendwann gibt es vielleicht auch gar kein Medium
mehr mit dem man interagieren kann. Corporate Design ist in Zukunft nicht mehr nur
visuell. Neue Interaktionsformen kommen hinzu in denen die Marke weiterhin
erkennbar bleiben muss. Wir bewegen uns auf einen neuen Trend zu. Dieser Trend
nennt sich „Ambient Intelligence“.
„Ambient Intelligence“ beschreibt elektronische Umgebungen, welche sensitiv auf die
Präsenz von Menschen reagiert. Sie besteht aus drei Teilen:
Voice Recognition (Sprache)
Wie klingt die Marke? Mit welcher Tonalität sprechen wir mit dem Kunden?
Haptic Technology (Gestiken, Augenbewegungen, Berührungen)
Wie fühlt sich die Marke an? Wie verhält sie sich?
Contextual Conscience
Marken werden zukünftig ein Bewusstsein entwickeln müssen: Für den
Kontext, aber auch für die Interaktionsformen im Raum. Wie viele Personen
sind anwesend? Welcher Input ist an mich als Marke gerichtet, welcher an die
Gruppe? Relevanz und im richtigen Moment präsent oder nicht präsent zu
sein sind Voraussetzungen für Interaktion mit dem Menschen.
Genauso wie für alle bisherigen Ausprägungen müssen wir auch für zukünftige
Interaktionsmuster übergreifende Prinzipien anlegen. Und da diese auch nur im
Code definiert sind, können wir sie wie alle Bisherigen auch in eine entwickelte
Pattern Library einsetzen.
Autonomous Design ist also die Basis um die digitale Transformation aktiv
voranzutreiben. So können wir aktiv mitgestalten anstatt passiv Schritt zu halten.